Eli heisst er, ist schlank und gross, Mitte 50, mehr oder weniger alleinstehend, oftmals am Rande einer Depression, aber immer erfreut, mich zu sehen. Das Vergnügen hat er etwa alle zwei Monate, schon seit Jahren. Dann mache ich es mir bei ihm gemütlich, bekomme Kaffee und Kekse serviert und lasse ihn an meine Haare ran. Unterdessen klagt er mir sein Leid. Regt sich über seine Landsleute auf, erzählt mir, wie angenehm er den Umgang mit Nicht-Israelis (wie mir) findet, zeigt mir sein neues Auto. Vor vielen Monaten rief er mich sogar bei der Arbeit an, weil er meinen Rat in Sachen Konvertierprozess brauchte. Das hat mir einmal kostenlos Waschen und Fönen eingebracht. Ungefähr zur selben Zeit starb einer seiner Brüder. Vor fünf Monaten folgte seine Mutter. Seither wohnt er wieder zu Hause, um seinen altersschwachen Vater zu pflegen.
Als ich ihn nun heute Morgen anrief, um einen Termin zu machen, hörte ich an seiner Stimme gleich, dass etwas passiert war. So war ich eigentlich kaum überrascht, ihn plötzlich mit Bart und Kipa im Laden stehen zu sehen. Oh nein, dachte ich nur, jetzt ist der alte Mann auch gestorben. Nicht weit gefehlt. Ein zweiter Bruder ist vor drei Wochen einem Herzinfarkt erlegen, mit 57 Jahren. "Die halbe Familie ist schon von mir gegangen", sagt Eli bedrückt. Nach Pessach-Feiern sei ihm dieses Jahr wirklich nicht zumute. Andererseits, schimpft er, der aus religiösen Familienbanden ausgebrochen ist, wolle er nicht ein Jahr Bart tragen, keine Musik hören und sich nichts Neues kaufen, wie es die jüdische Gesetzgebung nach dem Tod eines Elternteils unter anderem vorschreibt. Er könne doch nicht für ein ganzes Jahr aufhören zu leben! Noch am Sonntag, vor dem Seder, werde er mit seinen noch verbliebenen Brüdern Einkaufen gehen. Seit fünf Monaten habe er sich nichts mehr gekauft, das stelle man sich mal vor!
Während alles aus ihm herausbricht, klingen von draussen die Geräusche vorbeihastender Menschen herein. Gedämpfte Stimmen. Empörtes Hupen. Plötzlich realisiere ich die Stille im Raum, die zwischen seinen Worten hallt, und mit einem Mal wird mir das ganze Ausmass der Traurigkeit bewusst. Wie viel kann ein Mensch innerhalb so kurzer Zeit verkraften?
Als ich mich schliesslich verabschiede, geht ein Lächeln über sein Gesicht. Schöne Feiertage, wünscht mir Eli. Danke! ruft er mich dann noch hinterher. Wofür? denke ich nur. Wofür könnte er mir danken? Für ein offenes Ohr? Ein anteilnehmendes Gesicht? Innerlich schmerzt mich das Unglück, dass ihm so oft wiederfährt. Manche Menschen haben es nicht leicht. Hoffentlich bringt der Grosseinkauf am Sonntag ein bisschen Licht in sein Leben. Der Sederabend wird sicherlich traurig genug.
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